Weihnächtliche Geschichten

Paul wacht auf


Paul war ein Junge, der von allen gemocht wurde. Schon aus der Ferne war er leicht zu erkennen, weil er einen blonden Strubbelkopf hatte und ein wenig größer war als die anderen 12-jährigen Jungs. Paul war zwar nicht der beste Schüler, aber er kam gut genug mit, um immer genügend freie Zeit zu haben. Die verbrachte er am liebsten mit seinen Freunden. Paul spielte Fußball, war viel im Wald unterwegs und kletterte besonders gern auf Bäume. So gern Paul auch an der frischen Luft war - seine Eltern hatten ihn schon früh dazu bewegt -, Paul liebte auch seine PlayStation. Er spielte außerdem gern Computer-Spiele und wünschte sich nichts mehr als ein iPhone. Und überhaupt wünschte sich Paul eine ganze Menge. Weihnachten stand vor der Tür und die Wunschliste von Paul wurde länger und länger. Seine Mutter sprach am 1. Advent mit ihm über dieses Thema und sagte, dass er wohl nicht alles bekommen könne, was auf der Liste stand. Zuerst fand Paul das in Ordnung, aber nach und nach gab es dicke Luft zuhause, denn seine Freunde in der Schule erzählten von ihren Wunschzetteln und prahlten damit, dass ihnen jeder ihrer Wünsche erfüllt werden würde. Paul wurde daraufhin ziemlich wütend auf seine Eltern, es gab Streit. An einem Abend - es war kurz vor dem 2. Advent - kam Pauls Vater abends in sein Zimmer, um die Sache ein- für allemal zu klären. Er sagte zu Paul, dass es sich die Familie nicht leisten könne, alle Geschenke auf der Liste zu kaufen. Als Paul von seinen Freunden berichtete, sagte sein Vater: "Vielleicht stimmt das, was Deine Freunde Dir erzählen. Vielleicht bekommen sie all das, was sie sich wünschen. Möglicherweise wollen sie aber auch nur angeben. Freue Dich auf das, was Du bekommst, wir sehen, was wir tun können." Damit war das Thema aber nicht erledigt. Paul war traurig und immer noch ein bisschen wütend. Er war sicher, dass seine Ansprüche so hoch nun auch wieder nicht waren, also verstand er nicht, warum seine Eltern sich so verhielten.

Als der 3. Advent schon ein paar Tage zurücklag und das Weihnachtsfest immer näher rückte, lag Paul abends im Bett und dachte über seine Geschenke nach. Er hoffte, dass er so viel wie möglich von dem, was auf seiner Wunschliste stand, bekommen würde, war aber sicher, dass er auf Einiges verzichten musste. Er wusste nicht warum, aber in diesem Jahr freute er sich nicht so sehr auf Weihnachten wie sonst. Etwas war anders, und das gefiel Paul überhaupt nicht. Tatsächlich dachte er inzwischen viel mehr darüber nach, was er nicht bekommen würde, als darüber, was unterm Weihnachtsbaum liegen würde. Paul schlief mit einem merkwürdigen Gefühl ein, um ein paar Minuten später wieder aufzuwachen. Vor ihm saß ein Mann in Jeanshose und Blazer. Er trug einen roten Hut und hatte Cowboystiefel an. Alles in allem sah er wirklich ungewöhnlich aus. Aber nett wirkte er, das merkte Paul sofort.

"Wo ist Dein Problem, Kumpel?" fragte der Mann.
Paul richtete sich auf und rieb sich die Augen. Er sah den komischen Kerl an und rang nach Worten. Dann fragte er das, was nahelag in dieser Situation: "Wer sind Sie?"
Der Mann mit dem Hut lächelte milde.
"Willst Du mir nicht erzählen, was los ist?" fragte er, ohne auf Pauls Frage zu antworten. Und noch bevor Paul etwas sagen konnte, fuhr der Mann fort: "Ach so, wer ich bin! Natürlich, ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bitte um Entschuldigung, ich bin ein bisschen im Stress und vergesse im Dezember immer recht viel. Aber wer will es mir verübeln? Du kannst Dir vorstellen, dass ich alle Hände voll zu tun habe."
Paul rieb sich erneut die Augen. Hier wollte ihn jemand veralbern, das war ganz eindeutig. Mit dem Selbstvertrauen eines Jungen, der in einem wohlbehüteten und liebevollen Elternhaus aufwuchs, sagte er: "Ja, klar, viel zu tun im Dezember, sicher. Wollen Sie mir sagen, Sie sind der Weihnachtsmann? Ich lach mich kaputt!"
Der Mann lehnte sich zurück und nahm seinen roten Hut ab.
"Natürlich bin ich der Weihnachtsmann", sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die Paul irgendwie schlüssig fand, obwohl das Ganze hier doch mehr als merkwürdig wirkte. Nur 10 Sekunden später glaubte er dem Mann, auch wenn dieser weder einen weißen Bart hatte, noch sonst das Outfit trug, dass man gemeinhin beim Weihnachtsmann annimmt. Hier saß der Weihnachtsmann, das war Paul klar. Und so erzählte er von seinem Problem. Von den Geschenken, die er nicht bekommen sollte. Von seinen Freunden und seinem Streit mit seinen Eltern.
"Ich komme gerade von einem anderen Jungen", erläuterte der Weihnachtsmann. "Von einem Jungen, den ich nicht in seinem Zimmer besuchen konnte. Weil er keins mehr hat. Gestern ist das Haus seiner Eltern abgebrannt. Niemand weiß, wie es dazu kam. Aber das Haus ist weg, der Junge weiß noch nicht, wo er am Heiligen Abend sein wird. Er sagte zu mir, dass ihn das nicht störe. Er sagte, dass er froh ist, denn seinen Eltern ist nichts passiert. Auch seine kleine Schwester konnte aus dem Haus gerettet werden, bevor es endgültig einstürzte. Niemandem ist etwas passiert."
Paul staunte. Er saß in seinem Bett, den Mund geöffnet und lauschte den Worten des Weihnachtsmanns. Der sprach unbeirrt weiter: "Ich habe als Weihnachtsmann ziemlich viel Macht, Paul, weißt du das?"
Paul wollte sagen, dass er nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt, stammelte stattdessen aber nur: "Na klar, ist doch logisch."
Der Mann mit den Cowboystiefeln fuhr fort: "Der Junge tat mir leid, nach dem, was er erleben musste. Ich bot ihm an, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, den er hatte. Er konnte sich wünschen, was auf Deiner Wunschliste steht. Und das, was auf den Listen Deiner Kumpels steht, auch noch. Aber der Junge sagte nur, er wolle am Heiligen Abend gern mit seiner Familie zusammen sein. Mit einem guten Essen. Und einem warmen Zimmer. Und er wolle ein Bett, in das er sich kuscheln könnte. Ich habe das geregelt. Die Familie wird morgen Abend in ein neues Haus einziehen. Frag mich nicht, wie ich das gemacht hab, Kumpel, glaub einfach, dass ich es kann, ok?"
Paul hatte längst feuchte Augen bekommen und sagte nur leise: "Ok."

Als Paul am nächsten Morgen aufwachte, war ihm sein Wunschzettel egal geworden. Das Gespräch mit dem Weihnachtsmann - wenn es denn tatsächlich stattgefunden haben sollte - hatte ihm gezeigt, dass Geschenke nicht alles im Leben sind. Schon gar nicht, wenn man das Fest mit den Menschen feiern kann, die einem besonders am Herzen liegen. Paul freute sich jetzt wieder auf den Heiligen Abend. Nur ein Satz wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Und er war sich nicht sicher, ob er diesen Satz tatsächlich in der letzten Nacht aus dem Munde des Weihnachtsmannes gehört hatte oder nicht.
"Der Junge wollte zwar kein Geschenk, Kumpel. Aber ein iPhone habe ich ihm trotzdem dagelassen."




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