Verbrecherjagd in Büddelsdorf

Eine Geschichte zum Vorlesen in der Adventszeit

"Papa, du nervst!"
Zum hundertsten Mal rutscht Lene auf dem Sitz herum und dreht die Musik noch lauter, nachdem Papa zum gefühlt tausendsten Mal vom besinnlichen Weihnachtsfest mit der ach so lieben Verwandtschaft geschwärmt hat.
"Können wir nicht wenigstens dieses eine Mal zu Hause feiern? Ich hab einfach keine Lust mehr auf diese nervigen Onkel und Tanten und wer sie alle sind. Ich kenn die doch eh alle nicht." Mit diesen Worten hatte Lenes Bruder Benni verzweifelt versucht, die jährliche Qual noch irgendwie abzuwenden. Aber Papa war wie jedes Jahr hart geblieben: "Wir fahren an Weihnachten immer zu Onkel Heinz und Tante Gerda. Das war schon immer so, und punkt."
Jetzt sind sie also wie jedes Jahr auf dem Weg ins idyllische Kleinschwatzingen. Papa, der ununterbrochen vom "beschaulichen Weihnachten mit der Familie" schwärmt, "an Weihnachten gehört sich das nun mal so, alles schön festlich und besinnlich". Mama, die schon seit einer Stunde jammert, dass ihr ihre komplizierte weihnachtliche Hochsteckfrisur völlig misslungen ist - wie jedes Jahr. Benni, der sich seit genauso langer Zeit auf dem Rücksitz mit irgendeinem Ballerspiel vergnügt und Lene dabei ununterbrochen seinen Ellbogen in die Seite rammt. Und, nicht zu vergessen: ihr schwerhöriger Opa. Der ist wieder mal in Höchstform, kommentiert Papas Geschwafel vom "Singen mit der Familie" gerade mit den Worten: "Ja, früher haben wir den Nachbarsjungen auch immer in den Zwinger gesperrt, das waren noch Zeiten!"


Wenigstens woanders scheint an Weihnachten mehr los zu sein. Zwischen voll aufgedrehter Musik und Bennis Ballerspiel hört Lene das Radio: "... in der Nähe von Büddelsdorf zwei Bankräuber auf der Flucht ... vermutlich auch für den gestrigen Überfall auf den Dorfladen in Kleinschwatzingen verantwortlich ... Vorsicht, sind bewaffnet und gewaltbereit ..." Papa zuckt so plötzlich zusammen, dass er das Auto fast in den Graben setzt. "Büddelsdorf? Aber da sind wir doch gerade durchgefahren ... Und wenn die jetzt hier rumlaufen???" Zum ersten Mal seit der Abfahrt verstummt Mamas Gejammer. Herrlich! Lene dreht die Musik leiser. Gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Papa vor Schreck den Motor abwürgt. Da stehen sie nun, abends um sechs im Dunkeln, mitten auf der Landstraße. "Papa!", schimpft Lene. "Nur, weil du plötzlich Angst vor irgendwelchen Bankräubern kriegst, stehen wir jetzt hier. Na, immerhin verpassen wir dann diese grässliche verbrannte Ente von Tante Gerda."
"Ja, die Russen haben damals ja auch verbrannte Erde bei uns hinterlassen ..." fällt Opa sofort ein. Lene kann sich das Grinsen nicht verkneifen. Immer, wenn Opa von den Russen anfängt, muss sie an den Opa von ihren russischen Nachbarn denken und daran, wie die beiden Opas beim letzten Familienfest der Nachbarn fröhlich Brüderschaft getrunken haben. An dem Tag konnte Opa plötzlich sogar auf Russisch sagen: "Ich habe mein Gebiss verloren."


Im Moment ist Lene allerdings die Einzige, der zum Lachen zumute ist. Papa starrt entsetzt auf zwei große unförmige Gestalten in der Dunkelheit und stammelt: "Da! Da sind sie! Und wenn die uns jetzt ausrauben ... oder uns umbringen!!!" Während Mama noch jammert "Mein schöner Goldschmuck!", ist Benni schon aus dem Auto gesprungen. "Ich guck mal, ob das echt die Verbrecher sind!" hören sie noch, und schon ist Benni im Gebüsch verschwunden. Da muss Lene natürlich gleich hinterher, mal sehen, ob sie wohl auch einen von den Typen zu fassen kriegt. Vorsichtshalber greift sie sich noch schnell ihre Ohrstöpsel - zum Fesseln - und die Saftflasche aus Glas. Das ist ja mal ein aufregendes Weihnachten!
Da - schon raschelt es im Gebüsch. Lene hat nur ein ganz klein bisschen Angst, greift sich dann aber die Flasche und schlägt beherzt zu. Der Bankräuber gibt noch ein komisches Grunzen von sich und sackt dann wie ein nasser Sack in sich zusammen.
Da schreit plötzlich Benni wie verrückt - der andere Bankräuber hat ihn sicher zu fassen gekriegt! Schnell stolpert Lene den Abhang hinunter, nur, um gerade noch rechtzeitig zu sehen, wie das linke Bein ihres Bruders im Gebüsch verschwindet. Vor lauter Panik dreht sie sich um und will weglaufen - da packt sie jemand am Arm. Der Bankräuber!!! Aber es ist nur Papa, der völlig verwirrt vor sich hin redet: "Der hat mich niedergeschlagen! Der hat einen Knüppel - bloß schnell weg hier!"


Mama kriegt von der ganzen Aufregung nichts mit. Sie hat vor lauter panischem Rumfuchteln ihre goldene Halskette verloren! Die sucht sie jetzt weinend und jammernd und kriegt nicht mit, wie Lene in der Dunkelheit Papa mit der Saftflasche eins überbrät. Auch nicht, wie Papa den dunklen Gestalten auf der Wiese hinterher taumelt, von denen er glaubt, dass sie ihm eins mit dem Knüppel versetzt haben, und dabei in den Graben fällt - direkt auf Benni, der doch gerade Fußspuren von den Verbrechern im Matsch entdeckt hat! Mama kriegt auch nichts von den beiden Kühen mit, die friedlich auf der Weide grasen und keine Ahnung haben, dass sie gerade als mutmaßliche Bankräuber kurz davor sind, von einer wild gewordenen Familie verdroschen zu werden.
"Schon komisch, diese Menschen", meint Kuh Liese, während sie bedächtig ihre Grashalme kaut.
"Ach", antwortet Kuh Erna gelassen, "mein Bauer sagt, die Stadtmenschen sind eben so, da versteht man nie, was die eigentlich wollen."


Lene hat in der Zwischenzeit Benni entdeckt, der sich mühsam von Papas unsanfter Landung auf seinem Rücken zu erholen versucht.
"Papa!", schreit Lene. Benni lebt noch! Schnell, wir müssen ihn zum Auto bringen, bevor die wiederkommen!" Papa kommt durchs Gebüsch gestolpert, nimmt auf dem Weg Äste, Dornen und alles mit, was sich ihm in den Weg stellt - nur, um zwei Meter vor dem Ziel kräftig in den Matsch zu fliegen. "Die haben mir eine Falle gestellt", behauptet er später steif und fest. Lenes Saftflasche kann er natürlich im Dunkeln auch nicht sehen.
Mit vereinten Kräften schaffen sie Benni schließlich zum Auto, sammeln die völlig verstörte Mama ein - "Die sind mit meinem Goldschmuck weg! Buhuhuuu!" - und wollen gerade einsteigen, als Lene den leeren Sitz bemerkt. "Opa!!! Die haben Opa entführt!"
Aber Opa ist schnell gefunden. Bei Papas Schlachtruf "Da! Nimm das, du Dreckskerl!" hatte er doch glatt gedacht, der Speck sei fertig und die Ente im Ofen. Auf dem Weg an den Tisch war er dann aber auf Bennis Ballerspiel gestoßen und vergnügt sich jetzt damit, fiese Aliens abzuschießen.


Auf der Rückfahrt sind alle so erschöpft und froh, am Leben zu sein, dass selbst Papa keine Energie mehr hat, das "besinnliche Weihnachten in der Familie" heraufzubeschwören. Lene denkt im Traum nicht daran, nachzufragen, wieso sie dieses Weihnachten dann doch lieber zu Hause bleiben und es statt Weihnachtsente und Bohnen mit Speck Tiefkühlpizza gibt. Mama wird die Goldkette, die die ganze Zeit zwischen ihren Füßen lag, auch erst in zwei Tagen entdecken. Und dass die beiden Bankräuber schon vor Stunden in Bucksheim beim Einbruch in einen Kiosk gefasst wurden, werden sie wohl alle nie erfahren.


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